15.547 Vereine in ländlichen Regionen haben sich seit 2006 aufgelöst und wurden aus den Vereinsregistern gelöscht. Die Auflösung von Vereinen ist damit ein vorwiegend ländliches, deren Gründung ein städtisches Phänomen. Bestehende Vereine in ländlichen Regionen kämpfen besonders häufig damit, neue Engagierte zu gewinnen. Auch ihr Bestand ist damit gefährdet.
In Vereinen geht es um mehr als Geselligkeit. Vereine in ländlichen Räumen organisieren gesellschaftlichen Zusammenhalt. Engagement, Gemeinsinn und Teilhabe entwickeln sich nicht von selbst, sondern sind auf ein bürgerschaftliches Leben in der Kommune angewiesen. Das Ausdünnen der Vereinsstrukturen schwächt die Voraussetzungen, die in Regionen mit alternder, abwandernder und schrumpfender Bevölkerung Lebensqualität und gesellschaftlichen Zusammenhalt ermöglichen.
Vereine werden besonders wichtig, wenn Kommune und Staat Leistungen der Daseinsvorsorge nicht mehr erbringen und gleichwertige Lebensbedingungen in Stadt und Land nicht mehr gewährleisten können. Bürgerbäder und -bibliotheken, Bürgerbusse und genossenschaftlich getragene Dorfläden sind längst keine Seltenheit mehr. Häufig springen Bürgerinnen und Bürger dort ein, wo Kommune und Staat sich zurückziehen.
Bürgerinnen und Bürger haben gegenüber dem Staat einen Gewährleistungsanspruch auf wohnraumnahe Versorgung mit lebenswichtigen Infrastrukturen. Dazu zählen der Zugang zu ärztlicher Versorgung, eine zu Fuß erreichbare Haltestelle des Nahverkehrs, die Nähe zu Bildungsinstitutionen und weitere Bereiche. Der demografische Wandel stellt diese Lebensbedingungen zunehmend in Frage. In ländlichen Regionen leidet so die Lebensqualität; Menschen werden abgehängt von Wohlstand, Teilhabe und gesellschaftlichem Wandel.
Die Nutzung digitaler Technologien kann einiges dazu beitragen, die Probleme zu überwinden, mit denen Vereine in ländlichen Räumen in ihrer täglichen Praxis konfrontiert sind. Digitalisierung ist gekommen, um zu bleiben. Sie verändert sämtliche Lebensbereiche. Das Vereinsleben und Engagement-Möglichkeiten sind davon nicht ausgenommen. Die Leitfrage für Vereine auf dem Land ist daher nicht, ob, sondern wie Digitalisierung für ihre Ziele genutzt und gestaltet wird. Dabei geht es schon heute in vielen Fällen nicht darum, analoges in digitales Engagement zu überführen. Vielfach ist das gemeinsame Engagement und das direkte, Zusammenhalt stärkende Wirken nur möglich, weil es digital initiiert oder – sinnvoll – ergänzt wurde.
Vereine in ländlichen Räumen müssen für die Vereinsarbeit größere Distanzen überwinden – von der Mitgliederversammlung über die Vorstandssitzung bis hin zu gemeinsamen Aktivitäten. Da immer mehr Vereine miteinander fusionieren, um gemeinsam überlebensfähig zu bleiben, erweitern sich diese Einzugsgebiete noch. Oftmals ist es daher eine große Erleichterung, wenn Mitglieder von Vereinsvorständen beispielsweise durch Videokonferenzen oder Cloudlösungen den Aufgaben ihres Ehrenamts so nachgehen können, dass lange Wege entfallen.
Das ist nur eine von vielen Möglichkeiten, wie Digitalisierung Vereinsarbeit gerade auf dem Land unterstützen kann. Technologie kann beispielsweise auch helfen, Arbeitsprozesse zu verbessern, durch neue Kommunikationswege Engagierte zu gewinnen, und die Zusammenarbeit an Formen anzupassen, die jüngere Menschen längst als selbstverständlich erleben und praktizieren. Vernetzung online muss keineswegs dazu führen, dass gemeinschaftsbildendes Engagement im Hier und Jetzt verschwindet – vielmehr kann es dessen Grundlagen stärken. Digitalisierung eröffnet außerdem potenziell auch älteren und mobilitätseingeschränkten Personen verbesserte Teilhabemöglichkeiten und kann so gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken. Auch das hat gerade für Vereine in alternden, schrumpfenden ländlichen Räumen viel Potenzial.
Die besten Ideen zur Weiterentwicklung von bürgerschaftlichem Engagement und Zivilgesellschaft kommen aus ihr selbst. Das gilt beim Thema Digitalisierung wie bei allen anderen. Ihre Umsetzung und Verbreitung kann und muss aber durch Hilfe von außen gefördert und gestärkt werden. Hier sind Kommunen und Engagementpolitik von Bund und Ländern, aber genauso Unternehmen gefragt. Was braucht es, um Vereine in ländlichen Regionen dabei zu unterstützen, den digitalen Wandel unserer Gesellschaft auch für ihre Praxis zu nutzen?
1. Ländliche Räume gehören ins Zentrum digitaler Förderstrategien!
Das von der Bundesregierung im Koalitionsvertrag in Aussicht gestellte "Zivilgesellschaftliche Digitalisierungsprogramm" sowie die Digitalstrategien der Bundesländer sollten an dieser Stelle einen klaren Schwerpunkt setzen. Neben Investitionen in den Breitbandausbau und WLAN-Verfügbarkeit müssen verstärkt zivilgesellschaftliche Infrastrukturen und Engagement-Netzwerke vor Ort gefördert werden.
2. Digitalisierung kann nur gelingen, wenn Kompetenzen gefördert werden!
Digitale Skills sind bislang ungleich verteilt, insbesondere zwischen den Generationen. Aus einem Mangel an "digital literacy" darf aber kein "digital divide", kein kultureller Bruch im Engagement werden. Der Aufbau von Kompetenzen ist damit der wichtigste Ansatzpunkt für das Handeln von Stiftungen, Politik und engagierten Unternehmen.
3. Orte der Kompetenzentwicklung fördern!
Für Vereine und Initiativen brauchte es systematische Beratungs- und Unterstützungsstrukturen. Kommunen, Freiwilligenagenturen, Mehrgenerationenhäuser und andere sind wichtige Anlaufstellen für lokale Zivilgesellschaften. Sie sollten befähigt werden, diese Aufgabe auch im Thema Digitalisierung kompetent auszufüllen.
4. Die Verbände sind gefordert!
Verbände sind eine organisationale Allmende der Zivilgesellschaft. Sie kanalisieren und adressieren deren Interessen in Richtung Politik und Öffentlichkeit, stellen wichtige Dienstleistungen bereit und schulen Kompetenzen und Qualifikationen. Sie sollten sich stärker als bisher als zivilgesellschaftliche Ansprechpartner im Digitalisierungsthema für die Politik, als Orte der Selbstverständigung über räumliche Grenzen hinweg und der Kompetenzvermittlung in die lokalen Strukturen hinein engagieren.
5. Zivilgesellschaft braucht engagierte Unternehmen
Unternehmen hatten zwar lange auch den Ruf, die Digitalisierung nicht offensiv und früh genug angegangen zu sein. Doch verfügen sie mittlerweile über Erfahrungswissen und Anwendungskompetenzen, die dem zivilgesellschaftlicher Organisationen deutlich überlegen ist. Es könnte ein wichtiges Hilfsangebot sein, dieses weiterzugeben – ob in lokalen Einzelprojekten am Unternehmensstandort oder in digital ausgerichteten CSR-Programmen.
Der Tafel Ginsheim-Gustavsburg e.V. in Hessen ist das Problem sinkender Engagiertenzahlen in ländlichen Regionen aus erster Hand bekannt. Immer wieder warfen Ehrenamtliche in verantwortungsvollen Positionen das Handtuch. Zu viel Zeit wurde durch administrative Tätigkeiten geschluckt. Zu kurz kam dadurch die tägliche Arbeit mit und für Menschen. Sonja Ritz und Gabriele Fladung, die die Tafel ehrenamtlich leiten, wollten diesen Zustand nicht länger akzeptieren. Zusammen mit den neu in die Region zugewanderten Brüdern Faris und Basel Shehabi entwickelten sie das Projekt "Solve!" zur Online-Vermittlung von Sachspenden. Seit März 2018 werden sie als Teilnehmende bei "digital.engagiert" von Amazon und Stifterverband unterstützt; die Initiative fördert die Digitalisierung solcher gemeinnützigen Projekte.
"Das ist freiwillige Arbeit, die muss Spaß machen. Das ist der einzige Weg, Leute zu gewinnen", ist sich Fladung sicher. Gerade bei komplexeren Prozessen kostete der bürokratische Aufwand die Engagierten der Tafel viel Zeit, wie etwa der Vermittlung von Sachspenden – zum Beispiel Möbel – oder die Prüfung, ob die Empfänger auch berechtigt sind, die Spenden zu empfangen.
Doch die Mission der Tafel zielt nicht nur auf materielle Güter für Bedürftige ab. Sie ist auch ein Begegnungszentrum und schreibt Inklusion in ihrer tagtäglichen Arbeit groß. "Wir sind Anlaufstelle für problematische Situationen, die es sonst in unserer Gesellschaft nicht mehr gibt", so Ritz. "Es hat sich eben so ergeben dass die Leute nicht nur Lebensmittel brauchen, sondern mit allen möglichen Problematiken hier anlaufen." Den Engagierten der Tafel sind dabei auch interkulturelle Begegnungen wichtig. So ging der Verein aktiv auf Geflüchtete in der Umgebung zu, viele von ihnen engagieren sich nun selbst bei der Tafel.
"Wir arbeiten einfach mit den Menschen, die kommen, und haben den Geflüchteten auch sehr schnell ermöglicht einzuspringen und mitzuarbeiten", erklärt Fladung. "Sie arbeiten mittlerweile mit uns und sind eine große Stütze in unserer Arbeit." Mit diesem neuen
Typus Engagierter kam so als positiver Nebeneffekt auch das Digitale in den Verein: denn einige Geflüchtete brachten IT-Kompetenz und -Affinität mit. So ist die Idee, Sachspenden über eine Online-Plattform automatisiert und passgenau zu vermitteln entstanden, um den Verwaltungsaufwand möglichst gering zu halten, sodass die Ehrenamtlichen mehr Zeit haben, sich mit den Menschen zu beschäftigen.
Durch die Teilnahme bei „digital.engagiert“ betrachtet die Tafel Digitalisierung im Verein jetzt ganzheitlicher. Ritz sieht eine der größten Chancen im Bürokratieabbau, und merkt an, dass es sich bei der Tafel um Freiwillige, nicht um EDV-ExpertInnen handelt. "Mit den Geflüchteten, das brachte auch Verunsicherung", ergänzt Fladung, aber über Begegnung klärt sich das. "Man merkt einfach auch, dass so ein Generationenwechsel gut tut und einen Verein belebt. Mit der Digitalisierung ist das ähnlich. Ich finde es wichtig, die Möglichkeiten älterer Menschen zu erweitern, die man langsam an digitale Tools heranführt, ihnen Sorge davor zu nehmen abgehängt zu sein, nicht mehr mitzukommen in diesem neuen Zeitalter."
Die Tafel Ginsheim-Gustavsburg hat sich für Geflüchtete und digitale Ansätze geöffnet. Ihre offenen Strukturen erlaubten Geflüchteten, Digitalisierung des Vereinslebens anzustoßen. Als eine Art "Schule der Digitalisierung" werden auch ältere Menschen vor Ort langsam mit dem Thema vertraut gemacht. 50 Ehrenamtliche halten den Betrieb an drei Ausgabeorten und vier Wochentagen nun dank effizienterer Prozesse aufrecht. Das Ergebnis schlägt sich nicht nur in Arbeitserleichterungen für Engagierte, sondern auch in einer Kompetenz- und Horizonterweiterung für alle Beteiligten nieder. So kann die Digitalisierung auch ein ganz analoges Ziel haben, nämlich einen gesellschaftlichen Begegnungsort am Leben zu halten.
Deutschlands etwa 133.000 Sportvereine binden so viele Mitglieder und Engagierte ein wie kein anderes Engagementfeld. Der Sport ist der größte zivilgesellschaftliche Organisationsbereich. Henning Pape leitet die Abteilung für Organisationsentwicklung des LandesSportBunds Niedersachsen e.V. (LSB). Als Dachorganisation von über 9.600 Sportvereinen und -verbänden – vom Seglerverband bis zum Minigolfverein ist alles dabei – unterstützten er und seine Kollegin Kristin Levin Mitglieder mit Impulsen und Beratungsleistungen für zukunftsgerichtete Entwicklungsprozesse. Pape ist überzeugt: "Digitale Lösungen sind letztlich ein Hilfsmittel, aber sie müssen immer einhergehen mit einem Kulturwechsel in der Organisation insgesamt."
Das Wirken eines Sportvereins oder -verbandes bringt einen hohen Verwaltungsaufwand mit sich, der oft nicht mehr gerne von freiwillig Engagierten getragen wird und auch nur noch sehr schwer zu leisten ist. Besonders auf der Vorstandsebene beobachtet Pape daher einen Rückgang an Engagierten. Deswegen haben sich sechs kleine und mittlere Landesfachverbände zusammengeschlossen, um begleitet durch den LSB passgenaue Lösungen zu finden. In ihrem von der Förderinitiative "digital.engagiert" von Amazon und Stifterverband unterstützten Projekt "Digitale Geschäftsstelle" möchte das Projektteam kleinen und mittleren Landesfachverbänden gezielt helfen, da diese die Mitgliederverwaltung und Kommunikation auf rein ehrenamtlicher Basis analog oft fast nicht mehr stemmen können.
Kernidee der "Digitalen Geschäftsstelle" ist es, Verwaltungsarbeit effizienter zu gestalten und so Ehrenamtliche zu entlasten. Schon heute könnten laut Pape viele anfallende Aufgaben über Cloudlösungen erledigt werden, was das Engagement gerade auf Vorstandsebene und in ländlichen Regionen beträchtlich flexibler macht. Als Blaupause für Mitgliedsvereine und -Verbände gedacht, hofft der LSB auf eine Ausstrahlwirkung seines Pilotprojektes. Als Dachverband, erklärt Pape, sei der LSB hier sowohl als Impulsgeber als auch Unterstützer gefragt.
Nachhaltige Digitalisierung geht über die Entwicklung und Nutzung digitaler Tools hinaus. Es geht um eine grundlegende Veränderung der Organisationskultur, auch um ein jüngeres Publikum anzusprechen, neue Engagierte zu gewinnen: "Neues Denken zu implementieren, viel offener zu sein, neue Wege zu gehen, weg von hierarchischen Strukturen, agiles Management und Flexibilität in den Möglichkeiten zu partizipieren und mitzugestalten – all das sind Schwerpunkte, mit denen wir uns nun viel stärker als bisher beschäftigen müssen", ist sich Pape sicher.
Digitales Neuland zu beschreiten kann also ein wichtiger Schritt zu nachhaltigem zivilgesellschaftlichem Engagement sein, Arbeitserleichterungen bringen und somit auch bei der Gewinnung neuer freiwillig Engagierter helfen. "Das muss eine der Kernaufgaben von Vorständen in der heutigen Zeit sein", betont Pape, "zu gucken, was die Bedürfnisse der Menschen sind und wie sie mit denen eines Sportvereins oder -verbands zusammenzubringen sind."
Kein Analog ohne Digital – so lässt sich die Erfahrung zusammenfassen, die das Rheinhessische Salonorchester in den letzten Jahren gemacht hat. Als Hobbyorchester mit BläserInnen, StreicherInnen und einem Pianisten spielen die Vereinsmitglieder – angeleitet von einer professionellen Dirigentin – alles vom Barock bis hin zu modernen Musicals und Pop-Musik. Zur Finanzierung treten sie unter anderem regelmäßig in Seniorenheimen der Region auf. Doch vor zehn Jahren entging der seit 1971 bestehende Verein nur knapp der Schließung.
Dramatischer Schwund der alternden Mitgliederbasis, Zeitnot der HobbymusikerInnen und Engagierten, kaum öffentliche Wahrnehmbarkeit und finanzielle Probleme gefährdeten die Existenz des Vereins. Als Gegenmaßnahme setzte der Verein auf Digitalisierung – mit Erfolg: Neben der überfälligen Einrichtung einer Homepage, eines internen E-Mail-Verteilers und digitalen Konzertankündigungen digitalisierte das Salonorchester die komplette Verwaltung (von der Mitgliederverwaltung bis hin zu geteilter Dateiablage einschließlich aller Noten). So konnte dank größerer Bekanntheit und erfolgreicher Mitgliederwerbung die Schließung verhindert werden. Als nächstes ist geplant, einen virtuellen Proberaum einzurichten, damit Hobbymusiker auch von zu Hause und unterwegs gemeinsamen Proben beiwohnen können, vergleichbar mit einer Video-Konferenz. Und konsequenterweise steht auch die Einführung elektronischer Notenpulte an, um die digitalisierten Noten optimal nutzen zu können. Für sein Engagement bekam der Verein im August 2018 den Preis "Ehrenamt 4.0" des Landes Rheinland-Pfalz verliehen.
Die Autoren der Studie:
Patrick Gilroy, Holger Krimmer, Jana Priemer, Olga Kononykhina,
Maria Pereira Robledo, Falk Stratenwerth-Neunzig
Auftraggeber der im September 2018 veröffentlichten Studie war die Förderinitiative "digital.engagiert" von Amazon und Stifterverband, die Vereine und gemeinnützige Organisationen bei ihren Projektideen zur Digitalisierung der Zivilgesellschaft unterstützt.
Website zu "digital.engagiert"
Die Studie beruht auf Vereinsregisterdaten, Interviews, Fallstudien und der Verdichtung laufender Forschungsprojekte von ZiviZ im Stifterverband. Es werden neue Daten zum Vereinssterben in ländlichen Regionen in Deutschland und Ursachen dafür diskutiert. Die Zahlen gelöschter Vereinen in ländlichen Regionen werden hier erstmals veröffentlicht. Grundlage ist der ZiviZ Survey 2017, eine repräsentative Befragung von mehr als 6.300 gemeinnützigen Organisationen, welche seit 2012 erhoben wird. Die dritte Datenerhebung ist für 2020 geplant (besondere Schwerpunkte sind Digitalisierung und ländliche Regionen).
Mehr Info zum ZiviZ-Survey 2017